Weltliteratur für Wissens- und Herzensbildung
„Schau, was die alles frisst: Äpfel, Birnen, aber grüne, ich mag lieber die gelben, aber so ein Lolli wie die Nimmersatt mag, den will ich auch, und den Kuchen und…“
Die kleine Raupe Nimmersatt kennt jedes Kind, insbesondere, wenn es in den letzten Jahrzehnten eine Kindertageseinrichtung besuchte. 1969 hat Eric Carle die wohl bekannteste Schmetterlingslarve aus seiner Feder schlüpfen lassen, seitdem frisst sich das Raupentier durch sämtliche Kinderzimmer und Kitas und sorgt dafür, dass sich seine Geschichte als eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten entpuppt. Prägnant erzählt Eric Carle die Geschichte der Raupe mit dem unersättlichen Hunger, ihrem enormen Wachstum vom Schlüpfen aus dem kleinen Ei bis zur bis zur Entpuppung als Schmetterling. Dabei geht es Carle nicht um Moral, sondern darum, seinen Verbündeten, den jungen Kindern, das Prinzip Hoffnung zu vermitteln. Hoffnung und Vertrauen sich weiterzuentwickeln, mit unersättlichem Lebenshunger sich all das das einzuverleiben, was ein Kind groß und zum wunderbaren Menschen werden lässt. Die beruhigende Zuversicht, sich so gelungen vom Kleinkind zum Erwachsenen zu entwickeln, wie sich die Raupe in ihrer Metamorphose zum Schmetterling entfaltet – das beglückt und begeistert Kinder.
Eine lustvolle Begegnung mit Literatur
Eric Carle bezieht die Löcher, die die fressgierige Raupe hinterlassen hat, als haptische Erfahrung in seine Bildgeschichte mit ein. Die Stanzlöcher geben dem Buch seinen unverwechselbaren Charakter. Wenn Kinder ihre Finger durch die Löcher bohren, erleben und genießen sie selbst spielerisch die Unersättlichkeit des Tiers, seinen Lebenshunger danach, sich immer weiter zu entwickeln.
Die kleine Raupe Nimmersatt ermöglicht eine frühe, betont lustvolle Begegnung mit Literatur, ist Auslöser für kindliche Identifikationslust und bietet vielfachen Anlass zu angeregter Kommunikation und literarischen Anschlusserlebnissen:
-
Groß und Klein sind beglückt von der durch Reihung und Wiederholung geprägten Erzählung, die Kinder mit der Struktur einer einfachen Reihengeschichte vertraut macht. Die Freude an der Wiederholung bereits vertrauter Sätze ist oft die Grundlage dafür, dass ein literarisches Erlebnis von mehreren Kindern geteilt und als soziales Ritual erlebt wird. Wiederholungen werden von Kindern geliebt und erleichtern den Spracherwerb.
-
Eric Carles tiefe Naturverbundenheit, die sich in vielen seiner Bücher zeigt, sensibilisiert Kinder dafür, Natur wahrzunehmen. Die Raupe, die sich im Kokon verpuppt und darauf wartet, sich zum Schmetterling zu entwickeln, erzählt spannend über Metamorphosen in der Natur.
-
Die farbigen Collagen, die der kleinen Raupe ihr unverwechselbares Äußeres geben, motivieren Kinder, sich selbst in künstlerischer Arbeit zu erleben: Seidenpapier wird mit Farbklecksen betupft und dient als Ausgangsmaterial, eigene tierische Schöpfungen zu schnipseln und zu kleben.
-
Der Speiseplan der Raupe gibt Anlass für Literacyerfahrungen und regt die Kunst des Zählens an: Dazu malen die Kinder die jeweilige Anzahl der Früchte in eine Reihe, schreiben die Zahl dazu und – von einer in Großbuchstaben geschriebenen Vorlage – die Wortbezeichnung der Obstarten ab. Anschließend und auch beim Vorlesen sprechen Kinder die Zahlen und die Wortbezeichnungen der einzelnen Früchte in ihrer jeweiligen Muttersprache.
Kompatibel mit Bildungsplänen
Aufgewachsen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs, erlebt Carle als Kind angenehme und auch unerträgliche Ess-Episoden und er schreibt: „Das viele Essen, das in meinem Buch Die kleine Raupe Nimmersatt eine so wichtige Rolle spielt, ist keine reine Erfindung meiner Phantasie!“ Auch seine große Liebe zur Natur sieht er in seinen Kindheitserlebnissen begründet: „Dieses liebevolle Interesse für Ameisen, Käfer, Salamander und Würmer hat mein Vater in mir geweckt.“
Ohne Zweifel darf man es als Geniestreich bezeichnen, dass Eric Carle mit seiner nun fünfzigjährigen Raupe Nimmersatt eine Geschichte geschaffen hat, die sich kompatibel mit heutigen Bildungsplänen zeigt – nicht nur durch ihre pädagogische Absicht, vielmehr durch ihre literarische Qualitäten, die sie zur Weltliteratur für Kinder macht. Überzeugt und engagiert geben pädagogische Fachkräfte rund um den Globus das Buch an Kinder weiter, oft beflügelt durch die Erinnerung an eigene frühe Leseerlebnisse.
Schaukelstuhl zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache
Gemeinsam die Dinge beobachten, unterschiedlich deuten, im Bild verweilen und weitergehen, Zusammenhänge erkennen und Details suchen, all das macht das Zusammensein mit dem Buch zu einer lebendigen Begegnung. Eric Carles Bücher sind dafür in besonderer Weise geeignet: Sie regen Fantasie und Kreativität von Kindern an und agieren perfekt als Schaukelstuhl zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache.
Sylvia Näger
Sylvia Näger ist Diplom-Medienpädagogin und Dozentin in der Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. Sie berät und begleitet Träger und Einrichtungen in der Entwicklung und Umsetzung von Konzepten zur sprachlichen Bildung und ist Autorin pädagogischer Fachliteratur. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Literacy, Medien, Lyrik, sprachliche Bildung und Sprachförderung.