Der Künstler Eric Carle

Eric Carles enormer Erfolg ist aufs Engste verbunden mit der von ihm bevorzugten und zur Meisterschaft gebrachten künstlerischen Technik der Collage, wobei er keineswegs der erste Illustrator war, der diese Technik in der Bildenden Kunst oder im Bilderbuch nutzte. Bereits um 1900 reagierten Künstler, insbesondere die Gruppe der Dadaisten, auf die damals zunehmende Medialisierung des Alltags durch Film, Fotografie, Zeitschriften und Plakate, indem sie diese Materialien in ihre künstlerischen Arbeiten integrierten und sie als terial oder Ausgangspunkt für ihre Werke verwandten. Vor allem Hans Arp und Kurt Schwitters experimentierten mit farbigen gerissenen Papieren, den "papiers dechirés", die sie in ihre Werke einfügten. Henri Matisse dagegen bemalte im Alter großformatige Papiere, zerschnitt sie und fügte die so entstandenen Formen zu Collagen zusammen. Hannah Höchs Collagen in ihrem 1948 erschienenen "Bilderbuch" stehen in der Tradition der dadaistischen Collage. Sie verwandte vorgefundene Bildelemente und setzte sie neu so zusammen, dass eine verfremdete, irritierende und überraschende Wirkung entstand.

Die Collage als sinnlich-materielles Experimentierfeld

Während sich diese Form der Collage bis in die heutige Kunst etwa von Klaus Staeck oder David Noonan und anderen Künstlern aus dem Umfeld der "New british artists" verfolgen lässt, wurde die Technik der Collage im Bilderbuch nicht primär als Mittel der Verfremdung oder zur Schaffung einer neuen Sicht auf die Welt, sondern vielmehr spielerisch als materielles Experiment eingesetzt. Da das Bilderbuch im 20. Jahrhundert trotz seiner Öffnung für andere Medien nie ein "Forum für Provokation, bissige Karikatur oder politische Satire war" (Jens Thiele im Begleitflyer zur Ausstellung LAB: Hannah Höch – Das Bilderbuch, Museum Burg Wissem, Troisdorf, 2017), verwundert es nicht, dass die Collage im Bilderbuch in den folgenden Jahren vor allem als sinnlich-materielles Experimentierfeld genutzt wurde. Bei der Verwendung im Bilderbuch stand die haptische, materielle Präsenz der Collage im Vordergrund, so z. B. in Lieselotte Schwarz' berühmten Bilderbüchern Leiermann dreht goldene Sterne (1959) oder Dornröschen (1966) oder in Leo Lionnis Büchern Das kleine Blau und das kleine Gelb und Stück für Stück, beide aus dem Jahr 1962.

Eine wegweisende Begegnung: Leo Lionni und Eric Carle

In dieser Tradition der Collagetechnik ist auch Eric Carles Werk angesiedelt. Möglicherweise ist Carle durch seine Begegnung mit Leo Lionni und dessen Büchern Ende der 1960er Jahre in der Verwendung der Collagetechnik, die er bereits während seines Studiums an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart kennengelernt hatte, bestärkt worden. In seinem Aufsatz Mein Weg zum Kinderbuch (in: Ein Künstler für Kinder, hrsg. von Viktor Christen, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 1989) berichtet er, wie er nach seinem Studium an der Stuttgarter Kunstakademie 1952 nach Amerika zurückkehrte und in der jährlich stattfindenden Art Directors Show auf Werke von Leo Lionni stieß, die ihn sehr begeisterten. Carle besuchte Lionni, der damals Art Director des Fortune Magazines war. Dieser vermittelte ihm eine Anstellung als Grafiker bei der New York Times.

Vielleicht war es aber auch eine frühe künstlerische Erfahrung, die Carle zu seiner Form der Collage führte. So beschreibt er beispielsweise in besagtem Aufsatz Mein Weg zum Kinderbuch folgende Erinnerung: "1935 kam ich in Syracuse zur Schule. Ich erinnere mich lebhaft an ein sonniges Klassenzimmer, große Bogen Papier, bunte Farben und dicke Pinsel."

Seidenpapiere und intensive Farben

Wer je das Vergnügen hatte, Eric Carle bei der Herstellung der von ihm für seine Collagen verwandten Papiere zuzusehen, wird unschwer die Verbindung zu dieser frühen Erfahrung ziehen können, denn Carle verwendet auch heute noch große Bögen hellen, fast durchsichtigen Seidenpapiers als Grundlage für seine Collagen. Diese Papiere bemalt bzw. betupft er mit Acrylfarbe in intensiven Farbtönen, wobei er in die noch feuchte Farbe zusätzlich mit dem Pinselstiel oder einem Stock grafische Muster bzw. gewellte Linienformationen hineinritzt. Auf diese Art und Weise entsteht ein ungewöhnliches und zugleich auch sehr ästhetisches Ausgangsmaterial mit höchst unterschiedlichen Strukturen und einem immensen Reichtum an Farbnuancen, dem eine große Lebendigkeit und eine Unmittelbarkeit in der Wirkung inne wohnt. Die so vorbereiteten Papiere werden in Stücke gerissen oder geschnitten und in Schichten übereinandergelegt bzw. -geklebt. Es entfaltet sich eine starke sinnliche Präsenz des Materiellen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den Akt der Entstehung einer Collage lenkt. In einem Vortrag in der National Library of Congress berichtete Carle: "In Brauner Bär, wen siehst denn du?, meinem ersten Kinderbuch, verwendete ich einfache Seidenpapiere in 40 verschiedenen Farben. Nach diesem Buch entschied ich mich, diesen Nuancen mehr Farbe und Struktur zu geben. So begann ich, die Seidenpapiere mit allen möglichen Pinseln und Fingerfarbe zu bemalen. Dann fand ich heraus, dass diese handelsüblichen Papiere in der Sonne ausbleichen. Nun malte ich auf einfarbige weiße Seidenpapiere. Diese von mir präparierten Papiere wurden meine Farbskala."

Am Anfang stand die Schriftsetzerei

Darüber hinaus war auch Carles Studienzeit an der Stuttgarter Kunstakademie von großem Einfluss auf sein späteres Schaffen. Sein dortiger Lehrer war der Grafiker, Kalligraph und Typograph Friedrich Hermann Ernst Schneidler (1882-1956). Dieser ließ ihn während der ersten drei Semester zunächst eine Lehre bei den Schriftsetzern machen, die Carle nachhaltig beeinflusste. "Die Beschäftigung mit der Schriftsetzerei und das Wissen um die Regeln und Begrenzungen der Buchdruckerkunst haben seit dieser Zeit meine Arbeitsweise beeinflusst", schrieb Carle später. Und so erscheint es in der Tat folgerichtig, dass sich Carle nach seinem Studium und seiner Rückkehr nach Amerika, wo er ab 1952 zunächst als Art Director für die New York Times und ab 1956 bis 1963 in einer Werbeagentur arbeitete und insofern verstärkt mit der Gestaltung von Text-Bild-Verbindungen beschäftigt war, Ende der 60er Jahre ausschließlich dem Bilderbuch zuwandte. Hier konnte er seine künstlerischen Ambitionen als Illustrator mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen im Bereich des Buchdrucks zusammenführen.

Frühe Prägungen

Betrachtet man die von Carle gestalteten Papiere, die er als Material für seine Collagen verwendet, so verweisen diese in ihrer dekorativ-ornamentalen ästhetischen Gestaltung zurück auf Werke abstrakter Künstlerinnen und Künstler aus dem Umfeld der Stuttgarter Kunstakademie, der sogenannten Stuttgarter Avantgardisten, deren Werke Carle vermutlich während seiner Studienzeit in Stuttgart kennengelernt haben dürfte. Allen voran Adolf Hölzl (1853-1934), der 1905 als Professor an die damalige Königliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart berufen worden war und der bereits Jahre vor Wassily Kandinsky, der gemeinhin als Begründer der abstrakten Malerei gilt, mit abstrakten Kompositionen hervorgetreten war. Auch dessen Schülerin Ida Kerkovius (1879-1970), die ab 1911 als Hölzls Assistentin an der Stuttgarter Kunstakademie tätig war, dürfte mit ihren flächig ornamentalen abstrakten Gemälden und Bildteppichen für den Studenten Eric Carle eine bedeutende Einflussgröße gewesen sein.

Eine weitere Erinnerung, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, beschreibt Carle selbst in dem bereits erwähnten Vortrag in der Library of Congress. Dort berichtet er von seinem Kunstlehrer am Gymnasium, Herrn Krauss, der ihn eines Tages in seine Wohnung einlud und ihm die Reproduktionen von Werken 'entarteter' Kunst, zeigte. "Er erzählte mir, dass er die Unbefangenheit und das Skizzenhafte meiner Arbeiten mochte. Er bedauerte, dass er verpflichtet war, uns Naturalismus und Gegenständlichkeit zu lehren. Dann packte er die verbotenen Bilder wieder ein und schärfte mir ein, niemandem zu erzählen, was ich gesehen hatte." Diese Erinnerung Carles belegt, dass er schon als Schüler Werken abstrakter und expressionistischer Künstler begegnete und dass diese ihn offenbar so nachhaltig beeinflussten, dass er sich noch Jahre später an diese Begegnung erinnerte.

Künstlervorbild

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass zahlreiche verschiedene künstlerische Einflüsse im Werk von Eric Carle zusammenfanden und dass er aus diesen verschiedenen Einflussgrößen einen sehr eigenen, persönlichen Stil entwickelte und diesen in Bilder und Bücher für Kinder übertrug und damit eine spezielle Kunst für Kinder entwickelte.

Auch er selbst war dann mit seiner Form der Collage ein wichtiges Vorbild für zahlreiche junge Bilderbuchkünstler, die heute in der Collagetechnik arbeiten, so beispielsweise für Stefanie Harjes und Ulrike Möltgen oder in einigen ihrer Bücher auch für Isabel Pin.


Maria Linsmann

Maria Linsmann ist promovierte Kunsthistorikerin. Von 1998 bis 2017 leitete sie das Troisdorfer Bilderbuchmuseum und ist nun als Honorarprofessorin, Ausstellungskuratorin, freie Journalistin und Jurorin in Köln tätig.